9.WARUM WIR HASSEN

Unterschwellige Voreingenommenheit besser verstehen

image Wir können unsere Zusammengehörigkeit nicht verlieren. Aber wir können sie vergessen.«

Brené Brown

EBENSO WIE EIN MENSCH, der giftige Luft einatmet, merkt, dass seine Lungen mit der Zeit vergiftet werden, ist es für uns unmöglich, in einer strukturell rassistischen, sexistischen, transphoben und nach sozialen Schichten geordneten Gesellschaft zu leben, ohne Stereotypen über uns und andere zu verinnerlichen. Das spielt sicherlich eine Rolle bei offener Bigotterie: Wenn man Gruppen von Menschen, die nicht einem selbst oder dem Kreis derer, mit denen man sich identifiziert, ähneln, zu »anderen« macht und absichtlich diskriminiert. Es resultiert auch, allgemein und sogar gegen unseren Willen, in einer impliziten Voreingenommenheit. Implizite Voreingenommenheit bezeichnet das Phänomen, dass man unterschwellig positive oder negative unbewusste Gefühle gegenüber Menschen und Gemeinschaften hegt, je nachdem, ob diese Menschen einem selbst oder einer Gruppe ähneln, mit der man sich identifiziert.* Wie jemand, der giftige Luft einatmet und seine giftige Umgebung ablehnt, sich dagegen ausspricht und etwas dagegen tut, während seine Lunge dennoch die Schadstoffe aufnimmt, so hat auch unsere verinnerlichte unterschwellige bzw. implizite Voreingenommenheit nichts mit unseren expliziten, erklärten Überzeugungen oder Werten zu tun, egal wie leidenschaftlich wir sie vertreten.

Das bedeutet zwangsläufig, dass wir alle ausnahmslos Vorstellungen unserer Kultur verinnerlicht haben: über weiße Überlegenheit, männliche Überlegenheit, Überlegenheit wegen geschlechtsrollenkonformen Verhaltens, über die Überlegenheit körperlicher Leistungskraft, jugendliche Überlegenheit, die Überlegenheit konventioneller Schönheit und des Nicht-dick-Seins, neurotypische Überlegenheit, die Überlegenheit der Oberschicht – die ganze Palette. Die gesellschaftlichen Strukturen leben in uns allen. Das bedeutet auch, dass niemand von uns mehr wie besessen herauszufinden braucht, ob wir rassistisch, sexistisch usw. sind oder nicht. Wir sind es. Wir alle sind es. Fall abgeschlossen. Und jetzt liegt noch ein Stück Arbeit vor uns, denn wir können diese verinnerlichten Vorstellungen mit der Wurzel ausreißen. Da eine solche vorsätzliche Veränderung immer mit Bewusstheit beginnt (die wiederum mit Erkenntnis und Erfahrung beginnt), beginnen wir unsere Erkundung hier.

Es heißt, dass etwa 70 bis 90 Prozent unserer geistigen Prozesse unbewusst ablaufen. Unser Gehirn verarbeitet Informationen und leitet Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten in einem solchen Umfang und mit einer solchen Geschwindigkeit ab, dass es die Kapazitäten unseres (bewussten) Bewusstseins übersteigt. Doch trotz der Tatsache, dass unser Schädel Supercomputer beherbergt, die bewusster sind, als wir mitbekommen, sind die Informationen, die uns in unserem täglichen Leben als Anhaltspunkte dienen, sehr begrenzt. Die subjektiven Sinnesinformationen, die uns zur Verfügung stehen, erzählen nur einen winzigen Bruchteil der Geschichte dessen, was objektiv um uns herum geschieht. Daher versucht unser Nervensystem ständig, die Lücken dessen, was wir nicht wissen, zu füllen, indem es die Informationen, die wir haben, neu verarbeitet und immer wieder Wahrscheinlichkeiten und Kosten-Nutzen-Analysen der Situation durch führt. Das ist enorm viel Hirnaktivität, und all das läuft darauf hinaus, dass wir eine Zukunft vorherzusagen versuchen, die wir naturgemäß gar nicht kennen können, damit wir unsere Ressourcen schützen und unsere Chancen auf Sicherheit (oder Überleben), Belohnungen und Zugehörigkeit erhöhen können.

Wenn es um unbewusste Voreingenommenheit geht, liegt der Kern der Sache in der Wahrnehmung. Wir Menschen neigen dazu, so zu denken, zu fühlen und zu handeln, als sei das, was wir wahrnehmen, auf jeden Fall wahr. Viele von uns wissen, dass unsere subjektive Wahrnehmung in hohem Maße fehlbar und von Natur aus unzuverlässig ist, und dennoch fallen wir immer noch dem Glauben zum Opfer, es gebe eine objektive, korrekte Wahrnehmung der Realität. Bekanntlich heißt es unter anderem bei ANAÏS NIN: »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.« Das heißt, in dem Moment, in dem wir jemanden oder etwas wahrnehmen, ist das Wahrgenommene schon durch etliche komplexe Prozesse gefiltert worden, die von unserem neurobiologischen und psychischen System gesteuert werden. Mit anderen Worten, wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wir sehen ein – stark verändertes – Faksimile der Realität. Es ist viel eher wie ein »Verbinde die Punkte«-Puzzle, bei dem die Punkte die Sinneseindrücke sind, die wir aufnehmen; und das, was die Lücken zwischen den Punkten ausfüllt (die manchmal ziemlich weit auseinander liegen), sind fest verdrahtete biologische Instinkte, soziale Konditionierung, familiäre Konditionierung, Traumata, Fantasien und Hoffnungen sowie Stimmung und Veranlagung – und das ist nur der Anfang. Wenn wir bedenken, wie viele Informationen und Erfahrungen in nur einen dieser Faktoren, wie zum Beispiel die familiäre Konditionierung, einfließt, dann gewinnen wir einen kleinen Eindruck davon, welch ein umfassender Prozess das Wahrnehmen ist. Wir erkennen allmählich, dass wir sehr wahrscheinlich das Puzzle mit den Verbindungspunkten einer Ziege erhalten und es beispielsweise in ein Zebra verwandeln, während die Person, die direkt neben uns sitzt, am Ende vielleicht eine Figur aus Harry Potter vor sich hat.

In diesem Kapitel geht es um einige »Punkte-Verbinder«, die unser Gehirn im Zusammenhang mit unterschwelliger Voreingenommenheit ohne unser Wissen und unsere Erlaubnis verwendet. Damit sollen die impliziten Vorurteile, die wir alle haben, hier nicht wegerklärt oder gerechtfertigt werden. Vielmehr stelle ich das Folgende im vollen Bewusstsein der Plastizität unseres Gehirns und unserer innewohnenden Fähigkeit zur Veränderung fest. Merkwürdigerweise beginnen die implizite und die unverhohlen offene Voreingenommenheit mit etwas anderem, das die Neurowissenschaft als »Biases« – »Verzerrungen« – bezeichnet. Es beginnt mit einem biologischen Bias und erstaunlich ausgeklügelten Tendenzen, die dynamisch mit unseren psychischen Gegebenheiten und dann erst mit der Welt um uns herum interagieren.

Unbewusste Voreingenommenheit hat also alles mit komplexen neurologischen Reaktionssystemen zu tun, die mit missbrauchenden sozialen Strukturen verflochten sind. Voreingenommenheit und Bigotterie nehmen nämlich in unserem Kopf schon lange bevor uns unsere empfundene Reaktion bewusst wird, Gestalt an, und so erfordert es etwas Schulung und auch Übung, um auf den tieferen Ebenen, wo wir die Voreingenommenheit an ihrer Wurzeln packen und rückgängig machen können, etwas zu verändern. Obwohl es nicht notwendig ist, über die neurologischen Grundlagen von Voreingenommenheit Bescheid zu wissen, um diese Arbeit zu tun – die einfach darin bestehen kann, mehr Zeit damit zu verbringen, offen mit Menschen aus uns noch unbekannten Gruppen zu kommunizieren –, glaube ich doch, dass eine solche Theorie vielen von uns in zweierlei Hinsicht helfen kann.

Zum einen zeigt sie deutlich, dass uns auch hier noch einiges zu tun bleibt. Etwas über die neuropsychologischen Aspekte unserer Tendenz zur Voreingenommenheit zu lernen, kann denjenigen (ähem – weißen Linksliberalen) von uns helfen, die meinen, das Lesen von Zeitungen wie der New York Times reiche aus, um zu gewährleisten, dass man wahrlich progressiv sei. Die Theorie hilft uns, zu erkennen, ob wir nur über Voreingenommenheit informiert sind oder ob wir in der Lage sind, unsere eigene unvermeidliche Neigung zur Voreingenommenheit wahrzunehmen.

Zweitens trägt sie dazu bei, individuelle Scham- oder Schuldgefühle zu lindern, die wir vielleicht deswegen haben. Es hat zwar niemand von uns implizite Voreingenommenheit allein geschaffen – sie war schon lange vor unserer Geburt vorhanden –, doch wenn wir uns davon befreien wollen, für uns selbst und für andere, dann liegt das in unserer Verantwortung. In Kapitel 14 werden wir mehr darüber erfahren, wie Scham und Schuld unser Wachstum in diesen Bereichen hemmen.

Im folgenden Abschnitt untersuchen wir eine plausible Theorie darüber, wie unser Gehirn Punkte miteinander verbindet – genauer gesagt, wie unser Nervensystem zum Phänomen der unbewussten Voreingenommenheit beiträgt, der eigentlichen Wurzel der offenen Voreingenommenheit. Ich möchte in aller Vorsicht darauf hinweisen, dass das Folgende nicht die ganze Geschichte all der insgesamt beteiligten Variablen erzählt – nicht erzählen kann. Ich biete hier keine rechtfertigende Erklärung für Ungerechtigkeit an. Vielmehr biete ich Ideen und Einsichten an, die – so hoffe ich – bei unseren Bemühungen, die schädlichen Wurzeln der Voreingenommenheit auszugraben, nützliche Werkzeuge sind.

PUNKTE–VERBINDER NR. 1

Die Geschichtenerzählerin:
Die Inselrinde

EINE DER HAUPTAUFGABEN UNSERES GEHIRNS besteht darin, aus dem, was wir erleben, eine schlüssige, sinnstiftende Erzählung zu konstruieren. Es gibt eine Region unseres Gehirns, die wir gerade erst zu verstehen beginnen, die sogenannte Inselrinde, die erwiesenermaßen eine große Rolle bei diesem Prozess spielt. Die Inselrinde ist auf rätselhafte Weise an einer Vielzahl von Prozessen beteiligt, zum Beispiel an der Verdauung, an Krampfanfällen, Glücks- und Begeisterungszuständen und Vorstellungen von Göttlichkeit, um nur einige zu nennen.

Wissenschaftler*innen haben herausgefunden, dass bei Versuchspersonen, die mit scheinbar unlösbaren Problemen konfrontiert werden, die »geschichtenerzählende« Inselrinde aufleuchtet und die Betreffenden mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss gelangen, dass die Antwort entweder gleich um die Ecke liegen muss oder dass die Antwort nicht unergründlich ist, sondern einfach im Willen Gottes oder der Natur des Universums liegt. Denk darüber nach: Wenn etwas wirklich Unerklärliches passiert, wirst du überwiegend zwei Argumente hören:

1.»Es muss irgendeine logische Erklärung geben.«

2.»Es ist ein Wunder.« (Oder »Es soll so sein« oder
»Das Universum will mich etwas lehren«.)

WENN ES UM DAS KONSTRUIEREN VON BEDEUTUNG geht, hält sich die Inselrinde offenbar an die Maxime, dass Ungewissheit um jeden Preis ausgemerzt werden müsse. Es geht um Leben und Tod, wirklich! Wenn wir keine Geschichte über das, was vor sich geht, erschaffen können, dann sind wir wahrscheinlich weniger in der Lage, uns zu verteidigen, sobald etwas Bedrohliches auf uns zukommt.

PUNKTE–VERBINDER NR. 2

Die Pessimistin:
Negativitätsdominanz

VOR KURZEM BIN ICH UMGEZOGEN, in die Berge. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an Geister glaube, aber ich glaube, dass es in meiner neuen Wohnung vielleicht spukt. Zumindest sagt mir das meine Inselrinde. Nachts höre ich immer wieder Geräusche aus der Wohnung unter mir, obwohl sie leer steht. In der ersten Nacht hörte ich deutlich eine Tür schlagen und rannte die Treppe hinunter, noch dazu mit einem Steakmesser, nur um … nichts vorzufinden. Einige Nächte später war dasselbe Geräusch wieder da, und erneut hechtete ich halbnackt mit einem Küchenmesser die Treppe hinunter. Nichts. Wahrscheinlich ist ein Waschbär oder ein anderes Tier auf Futtersuche der Übeltäter, aber wenn ich das gleiche Geräusch noch einmal höre, werde ich es bestimmt nicht darauf ankommen lassen, das herauszufinden. Wenn es ein Waschbär ist und ich also recht habe, kein Ding. Wenn es aber ein Eindringling ist und ich mich irre – sehr großes Ding. Bei solchen Chancen spiele ich nicht. Der Einsatz wäre zu hoch.

Dasselbe galt für unsere Vorfahren. Mit dem Unterschied, dass sie inmitten viel größerer, unmittelbarerer Bedrohungen lebten. Und genau wie du und ich wollten sie sich nicht auf das Risiko einlassen, dass das Rascheln vor ihrem Haus nicht der Wind, sondern ein Bär war. So entwickelten wir eine sogenannte Negativitätsdominanz, eine allumfassende Neigung zu einer pessimistischen Interpretation der Ereignisse, es sei denn, wir haben die Gewissheit, dass es sicher ist, unsere Erfahrungen in positivem Licht zu sehen und entsprechend zu interpretieren. Das ist einer der Gründe, warum unser limbisches System viel leichter zu aktivieren ist als unser neokortikales System. Unser evolutionäres Training hat uns darauf hin konditioniert, kein Risiko einzugehen, wenn es um Sicherheit geht, aber es ist nicht wirklich hilfreich, um zu bestimmen, ob die Bedrohung wirklich real ist.

PUNKTE–VERBINDER NR. 3

Das Sektenmitglied:
Die Bestätigungstendenz

1964 WOLLTE DER HARVARD-PROFESSOR ROBERT ROSENTHAL herausfinden, was geschähe, wenn die Erwartungen der Lehrenden an ihre Schüler*innen dadurch verändert würden, dass Informationen über die Testergebnisse ihrer Schüler*innen manipuliert wurden. Er führte einen standardisierten IQ-Test für Kinder an einer Schule in der Stadt South San Francisco durch – änderte jedoch überall die Titelseite des Tests zu »Harvard Test of Inflected Acquisition«. Dann sagte er den Lehrenden, der Test würde Schüler*innen mit außergewöhnlichem Potenzial identifizieren. Er wählte mehrere Kinder völlig willkürlich aus und teilte den Lehrenden mit, der Test dieser Kinder habe sie als begabte »Aufblüher« identifiziert, bei denen in den kommenden Jahren eine signifikante Steigerung ihres IQ zu erwarten sei.

ROSENTHAL begleitete die Kinder zwei Jahre lang und stellte fest, dass bei diesen Kindern im Vergleich zu ihren Mitschüler*innen tatsächlich eine stärkere IQ-Steigerung zu verzeichnen war. Da er zudem auch andere Variablen kontrolliert hatte, gelangte er zu dem Schluss, dass dieses Ergebnis auf die veränderten Wahrnehmungen und Erwartungen der Lehrenden in Bezug auf die Schüler*innen zurückzuführen war, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden waren. Bei einer genaueren Untersuchung stellte er fest, dass die Lehrenden bei diesen Kindern durchweg öfter als bei ihren Mitschüler*innen nickten und sie auch häufiger berührten und anlächelten.

»Sehen heißt glauben«, sagt man, aber für unser Gehirn funktioniert es genau umgekehrt: Glauben heißt sehen. Was auch immer nach unserer Überzeugung der Fall ist, unser Gehirn macht sich auf die Suche nach Beweisen, die es bestätigen. Wenn wir beispielsweise glauben, dass die Gruppe, der wir angehören, etwas Besonderes ist, dann werden wir wahrscheinlich einige Fakten finden, die unsere Behauptung bestätigen. Wenn ich dann die Mitglieder meiner Gruppe als etwas Besonderes behandle, wird es wahrscheinlich das Beste in ihnen zutage fördern und damit die Bestätigung meiner Überzeugung noch einmal verdoppeln.

Wenn ich die Überzeugung vertrete, dass eine andere Gruppe abstoßend ist, kann ich wahrscheinlich auch dafür Beweise »finden«, die zu meiner Erzählung passen. Wenn ich dann Menschen aus dieser Gruppe so behandle, als seien sie abstoßend, wird das wahrscheinlich Reaktionen bei ihnen hervorrufen, die ich im Weiteren dann verwenden kann, um mein negatives Narrativ über sie zu stützen.

Die Wahrheit ist: Wir nehmen nicht so viel wahr, wie wir schlussfolgern, und wir ziehen lieber Schlüsse, die für uns schon vorher Sinn ergeben. Wir alle haben ein inneres »Sektenmitglied«, dem die Aufgabe zukommt, Beweise zu finden, dass das, was wir glauben, wahr ist.

PUNKTE–VERBINDER NR. 4

Verteidiger vereint … gegen Verletzlichkeit

UNSERE VERTEIDIGUNGSSYSTEME müssen also eine Geschichte erzählen und diese Geschichten sind tendenziell eher pessimistisch, und unsere Verteidiger sind auch Meister darin, Gründe zu finden, warum wir pessimistisch sein sollten – und genau hier beginnt unser Problem mit Menschen aus sogenannten anderen Gruppen. Wenn wir von der Vorstellung der Gleichheit bzw. Gleichberechtigung ausgehen, dann gehen wir davon aus, dass wir alle zusammen auf einer horizontalen Ebene existieren – auf dem gleichen Level stehen.

Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens ist es jedoch viel besser, eine vertikale Wahrnehmung der Realität zu konstruieren, in der es Ungleichheit und Hierarchie gibt. In einem solchen hierarchischen Realitätskonstrukt kann man sich in der eigenen Vorstellung hoch oben im Turm eines Schlosses sehen – bestätigt dadurch, dass man sich der Gruppe zugehörig fühlt, die das Schloss betreibt –, in Sicherheit vor allen zwielichtigen Gestalten unten, und in der Lage, den Horizont zu überblicken, um alle sich nähernden Angreifer vorher schon zu sehen. Ich hier oben, du da unten.

Sollte also zum Beispiel eine Familie illegaler Einwanderer aus Mexiko oder einem anderen südamerikanischen Land sich anschicken, die Mauern unseres Turms zu erklimmen und nach unserem metaphorischen Fenster zu greifen, indem sie darum bittet, mit Anstand und Respekt behandelt zu werden, dann ist das auf der Ebene unseres Nervensystems potenziell furchteinflößend. Vor allem, wenn unsere Wahrnehmung durch Nachrichtensender und Staatschefs der Welt beeinflusst wird, die immer wieder Botschaften wiederholen, dass diese Turmkletterer wahrscheinlich Mitglieder von Drogenkartellen und Vergewaltiger seien. Und vor allem auch, wenn wir es versäumt haben zu prüfen, ob das, was diese Person uns sagt, überhaupt auf echten Fakten beruht. Es ist wirklich so: Wenn irgendeine weniger privilegierte Gruppe ihre Macht für sich beansprucht und Gleichbehandlung fordert, fühlen sich die Privilegierten tendenziell selbst unterdrückt.

Gleichberechtigung ist von Natur aus mit Verletzlichkeit verbunden – es ist eine sozialer Zustand, in dem wir von unserem Turm herabsteigen, anderen Menschen ins Gesicht sehen und bereit sein müssen, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Damit einhergehend müssen wir uns für echte Verbundenheit öffnen, und das bedeutet, so zugänglich zu sein, dass wir durch die Erfahrungen und Weltanschauungen anderer verändert werden können. Es bedeutet, die Möglichkeit zu schaffen, dass wir eines der verletzlichsten und zartesten Empfindungen haben, die ein Mensch empfinden kann: dass wir uns irren, dass unsere konstruierte Wahrnehmung der Realität uns im Stich gelassen hat. Darum bringen wir die Rolle, die Angst bei der Voreingenommenheit spielt, in Benennungen wie Transphobie, Angst vor Trans-Menschen, und Xeno phobie, Angst vor Fremden, zum Ausdruck. Homophobie zum Beispiel ist eine Verteidigungsreaktion auf das Gefühl, dass Homosexualität in irgendeiner Weise eine furchterregende Bedrohung darstellt. Wir alle haben schon jemanden sagen hören: »Ich habe nichts gegen Schwule, solange sie es für sich behalten.« Das ist gleichbedeutend damit, zu sagen: »Ich fühle mich von Homosexuellen nicht bedroht, solange ich nicht daran erinnert werde, dass sie existieren, dass sie zählen und ein Leben haben, das sie in der Öffentlichkeit führen müssen, genauso wie ich.«

Die vielleicht elementarste, grundlegendste Lektion, die wir aus der heutigen Politik lernen können, ist die, dass die Realität verbogen werden kann. Unsere Wahrnehmung ist unglaublich formbar. Zwei Menschen können nebeneinander stehen, sich genau dasselbe ansehen und überzeugt sein, dass ihre äußerst unterschiedlichen subjektiven Interpretationen dieser Sache tatsächlich objektiv sind. Das geht zwar schon unser ganzes Leben lang so, aber wir haben es noch nie so wahrgenommen – bis jetzt, da die Auswirkungen zunehmend desaströs sind.

UND HIER IST DER HAKEN AN DER SACHE: Emotionale Verletzlichkeit ist riskant. Sie bedeutet zwangsläufig, dass wir uns für Empfindungen öffnen, die wir mit Gefahr und Verlust verbinden. Sehr selten ergibt sich emotionale Verletzlichkeit als Folge unbewusster automatischer Neigungen; häufiger ist es eine bewusste Entscheidung, die wir treffen müssen, weil wir erkennen, dass sie in unserem eigenen Interesse liegt. Denn was ist letztendlich riskanter: uns für die uns innewohnende Wahrheit zu öffnen, dass alle Wesen Sicherheit, Zugehörigkeit und grundlegendes Glück wollen und es verdienen, gleichberechtigt behandelt zu werden – oder den Weg weiterzugehen, auf dem wir uns jetzt befinden?

DIE PUNKTE VERBINDEN

Hier die neuropsychologische Gleichung:

EIN GEHIRN, das nur interpretieren, nicht aber objektiv wahrnehmen kann

+ DIE UNFÄHIGKEIT, Ungewissheit zu ertragen, und das zwingende Bedürfnis, Sinn zu konstruieren

+ DIE UNBEWUSSTE »VOREINSTELLUNG«, von einer Bedrohung auszugehen

+ DER UNBEWUSSTE DRANG, Beweise für den Sinn zu finden, den wir konstruieren

+ DIE ANGEBORENE TENDENZ zur negativen Interpretation von Beweisen

+ PRIMITIVE, EFFIZIENTE VERTEIDIGUNGSSYSTEME, die uns in unserer Verletzlichkeit schützen

+ DIE ANWESENHEIT EINER PERSON, deren Eigenschaften anders sind als die, an die wir gewöhnt sind

= KAMPF-FLUCHT-REAKTION: das Bedürfnis, diese Person anzugreifen oder von ihr wegzukommen alias unbewusste Voreingenommenheit

SOLCHE THEORIEN HABEN MIR GEHOLFEN zu verstehen, warum ich während meiner gesamten Schulzeit geschlagen und schikaniert wurde. Ich entsprach nicht den Gender-Normen und konnte deshalb nicht klar eingeordnet werden (Jahrzehnte später kann ich meine Gender-Identität, wie es scheint, immer noch nicht selbst einordnen). Mit jemandem wie mir konfrontiert, erlagen meine Tyrannen allen oben beschriebenen Tendenzen – sie brauchten eine Geschichte, die sie über mich erzählen konnten, suchten nach einer negativen, fanden so viele Details wie nötig, um sie zu untermauern, und sammelten ihre inneren und äußeren Verteidiger, um mich zu bestrafen und ihre Geschichte zu bestätigen. Da ich »sonderbar« war, galt ich gleichzeitig als bedrohlich und verletzlich – ein ideales Angriffsobjekt –, und häufig, so schien es mir, wurde das, was ich tat, in diesem doppelten Licht gesehen. Wenn ich reagierte, sagte man mir, ich solle mich entspannen. Wenn ich protestierte, sagte man mir, es sei meine Schuld. Als ich akute psychische Symptome entwickelte, wurde mir oft gesagt, dass ich nur auf Aufmerksamkeit aus sei. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit behaupteten andere in meinem Namen, dass ich negative Aufmerksamkeit mochte und mich deshalb so seltsam verhielt. Es wurde so verwirrend, dass ich nicht einmal mehr wusste, was für mich selbst wirklich stimmte.

DIE NEUROPSYCHOLOGISCHEN PROZESSE, die ich in diesem Kapitel beschreibe, spielen sich zwar auf der persönlichen und zwischenmenschlichen Ebene ab, aber ich denke, du wirst unschwer erkennen, wie die Ausbreitung dieser Muster auch die makrostrukturelle Ebene beeinflusst. Das soll nicht heißen, dass die einzige Möglichkeit, implizite Voreingenommenheit anzugehen, das Arbeiten auf der persönlichen Ebene ist – bei Weitem nicht. Aktivismus und politische Veränderungen auf der Ebene der Wohnviertel, Organisationen, Städte, Bundesländer und der Regierung können alle dazu beitragen, die Voraussetzungen, unter denen unterschwellige Voreingenommenheit gedeiht, wie extreme Vermögensungleichheit, Patriarchat und Rassentrennung, zu beseitigen.

Unseren Geist und unsere Beziehungen zu betrachten ist etwas, das wir alle in Übereinstimmung mit dem Empowerment-Modell dieses Buches jederzeit tun können. Auf der Ebene der Beziehungen besteht vielleicht der beste Weg, Voreingenommenheit mit der Wurzel zu beseitigen, darin, mit Menschen, die in verschiedenster Hinsicht anders sind als wir und deren Körper, Identität und Leben nicht unserem eigenen ähneln, in Kontakt zu sein und zu bleiben – und dann zuzuhören, uns einzufühlen, Fragen zu stellen und aus unserer Komfortzone herauszutreten. Und um als Individuen in die Mechanismen einzugreifen, die Wahrnehmung erzeugen, müssen wir auf der neurologischen und psychischen Ebene arbeiten. Das darf nicht zugunsten der vor uns liegenden anderen, konkreteren Aufgaben beiseitegeschoben werden. Denn jeder Versuch, sich mit gesellschaftlichen Systemen auseinanderzusetzen, ohne die evolutionären neuropsychologischen Zusammenhänge von Gruppen und Individuen zu verstehen, wird langfristig kaum Erfolg haben. Zudem würden wir dann mit großer Wahrscheinlichkeit auf ewig in einer Haltung verharren, in der wir auf andere mit dem Finger zeigen und versuchen, das Krebsgeschwür der Marginalisierung »da draußen« aus Systemen und anderen Menschen »herauszuschneiden«, ohne jemals »hier drinnen« zu betrachten, auf welche Art es in uns selbst aktiv ist. Darum biete ich am Ende des dritten Teils kontemplative Übungen an, die uns Gelegenheit geben sollen, auf dieser Ebene an uns selbst zu arbeiten.

Der Ansatz der Teile-Arbeit, der in diesen Übungen und auch sonst in diesem Buch zum Tragen kommt, ist ein äußerst praktischer Weg, wie wir an unsere eigene implizite Voreingenommenheit herangehen können. So können wir damit beginnen, dass wir Gefühle in uns – manche stärker ausgeprägt, manche eher unterschwellig – wahrnehmen und benennen, die in uns angesichts von Menschen aufkommen, die anders sind als wir. Und wir können diese Gefühle zu einem Gespräch auffordern – ihnen Fragen stellen, herausfinden, welche Arbeit sie zu tun versuchen, und erkennen, ob diese Arbeit auf sinnvolle Weise getan wird.

*Viel mehr über implizite Voreingenommenheit (»implicit bias«) erfährst du auf der Website des Kirwan Institute for the Study of Race and Ethnicity an der Ohio State University, http://kirwaninstitute.osu.edu.